Der Zahnarzt zwischen Wissenschaft, Patientenwunsch und Web 2.0

Die Zahnheilkunde muss sich in der vor uns liegenden zweiten Dekade dieses Jahrtausends unter anderem drei Herausforderungen stellen, die miteinander eng verwoben sind:

  1. Den Grundsätzen einer evidenzbasierten Zahnmedizin (EbZ).
  2. Einer zunehmenden Berücksichtigung der Patientenautonomie und der Grundsätze der (zahn)medizinischen Ethik.
  3. Einer rasanten Weiterentwicklung der Möglichkeiten der elektronischen Informationsbeschaffung.

Zu (1): Die EbZ spricht sich für eine Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie von Patienten aus. Neben der externen Evidenz, d.h. dem jeweils aktuellen Stand der publizierten Fachliteratur (externe Evidenz), bilden hierbei - was von Kritikern der EbZ häufig nicht beachtet wird, die individuelle klinische Expertise (interne Evidenz) sowie die Berücksichtigung der Patientenwerte und -präferenzen sind die Pfeiler dieses Konzepts, das inzwischen nicht mehr ignoriert werden kann (vgl. Bundestagsanalysen). Gleichwohl ist die EbZ in der deutschsprachigen Zahnmedizin noch längst nicht allgemein implementiert (Türp & Antes, Dtsch Zahnärztl Z 2009).

Zu (2): Medizinethische Aspekte in der Beratung und Behandlung von Patienten - und dazu zählt die klare Trennung zwischen zahnmedizinisch indizierten und nicht-indizierten Maßnahmen, also die Unterscheidung zwischen Zahnarzt und Dienstleister einerseits (Krones & Richter, in Schulz et al: Medizinethik, 2006) und Patient und Kunde andererseits (Maio, Zahnärztl Mitt 2006) - werden eine deutlich wichtigere Rolle spielen, als dies bislang noch der Fall ist. Voraussetzung für eine echte Patientenautonomie und damit eine partizipative Entscheidungsfindung ist die ausreichende, fachgerechte und wahrheitsgetreue Aufklärung und Beratung des betroffenen Patienten.

Zu (3): (Zahn-)medizinisches Wissen, das vor wenigen Jahren noch der (zahn)ärztlichen Welt vorbehalten war, ist heute weitestgehend öffentlich. Weit mehr als die traditionellen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen) hat das Internet mit seinen immer vielfältigeren Möglichkeiten dazu beigetragen. Während (im Web 1.0) der unilaterale Wissenstransfer im Vordergrund steht, erlaubt das Web 2.0 mit seinen interaktiven und kollaborativen Elementen einen bidirektionalen Wissensaustausch: Mittels sozialer Netzwerke (Facebook), Blogs (z. B. Blogger.de), Microblogs (Twitter) und RSS Feed ist eine direkte Vernetzung und Kommunikation zwischen den Nutzern - hier zwischen Patienten und Heilberuflern - möglich. Patienten bietet sich daher heute mehr denn je die Möglichkeit, auch ohne (zahn)medizinische Ausbildung einen proto- oder semiprofessionellen Status ("Prosumenten") zu speziellen Fragen erwerben. Voraussetzung hierzu sind allerdings verlässliche, d.h. korrekte, Informationen - die leider nicht immer als solche erkennbar sind, wie kürzlich am Beispiel der Online-Enzyklopädie Wikipedia belegt wurde (Lorenz & Türp 2011). In Einzelfällen kann das von einem zahnmedizinischen Laien erworbene, auf einen definierten Fall fokussierte (und dem aktuellen Forschungsstand entsprechende) Wissen die Kenntnisse, die einem dieses Gebiet abdeckenden Facharzt spontan zur Verfügung stehen, sogar übersteigen.

Angesichts dieser Entwicklungen wird sich der Zahnarzt in deutlich kürzeren Abständen, als dies bislang der Fall gewesen ist, fortbilden. Er sollte diese Notwendigkeit aber nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen, seine Kompetenzen kontinuierlich und zeitnah zu erweitern.

Freitag, 12. November 2010
Zeit: 14:45-15:30 Uhr
Ort: Forum, Substanz
Ebene/Etage: C
Prof. Dr. Jens Christoph Türp

Prof. Dr. 
Jens Christoph Türp 
 
Copyright © 2010 Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin